Bundesgerichtshof Urteil vom 29.6.2016, Az. IV ZR 474/15
Pflichtteilsansprüche bestehen immer dann, wenn Eltern, Ehegatten oder Abkömmlinge eines Erblassers enterbt sind. Der Pflichtteil beläuft sich auf die Hälfte des gesetzlichen Erbteils. D. h. der Pflichtteilsberechtigte erhält die Hälfte von dem, was er ohne Testament von Gesetzes wegen erhalten hätte. Hierfür wird der Wert des gesamten Nachlasses im Todeszeitpunkt ermittelt.
Sind als potentielle Erben beispielsweise zwei Kinder vorhanden, würden diese ohne Testament jeweils 50 % erben. Ist eines dieser Kinder nun enterbt, erhält es als Pflichtteil die Hälfte hiervon, also 25 %. Der Pflichtteil ist jedoch keine Beteiligung am Nachlass direkt. Der gesamte Nachlass gehört dem Erben. Dieser muss lediglich den Pflichtteil in Geld auszahlen.
Da für den Pflichtteil der Nachlasswert im Todeszeitpunkt entscheidend ist, könnte der Erblasser nun sein gesamtes Vermögen bereits vor seinem Tod übertragen und so das Pflichtteilsrecht umgehen. Aus diesem Grund bestehen Pflichtteilsergänzungsansprüche. D. h. zusätzlich zum Wert des Nachlasses im Todeszeitpunkt fließt in die Pflichtteilsberechnung zumindest anteilig auch der Wert sämtlicher Schenkungen aus den letzten zehn Jahren vor dem Tod ein.
Oftmals werden bereits vor dem Tod Immobilien an Kinder übertragen. Hierbei lauern einige Fallstricke, die immer wieder zu Streit um die Pflichtteilsergänzung führen. Regelmäßig ist es nämlich so, dass der Veräußerer die Immobilie zwar schon an Kinder übertragen aber doch noch selbst weiter nutzen möchte. Deshalb wird dann zwar das Eigentum übertragen, allerdings ein Nießbrauchsrecht oder ein Wohnungsrecht zurückbehalten.
Dies führt zu Problemen mit der oben genannten Zehnjahresfrist. Der Gedanke hinter dieser Frist besteht darin, dass der Erblasser zwar nicht auf Kosten des Pflichtteilsberechtigten sein Vermögen beiseiteschaffen darf. Wenn der Erblasser jedoch selbst bereits zehn Jahre auf den verschenkten Gegenstand verzichtet hat, soll er auch dem Pflichtteilsberechtigten nicht mehr zugute kommen. Wenn sich der Erblasser nun jedoch bei Übertragung der Immobilie ein Nießbrauchsrecht vorbehält, verzichtet er nicht wirklich auf den Gegenstand. Der Nießbrauchsberechtigte kann die Immobilie fast wie ein Eigentümer nutzen. Er kann z.B. frei entscheiden, ob er sie selbst nutzt oder vermietet. Der Bundesgerichtshof hat deshalb bereits vor längerem entschieden, dass bei Vorbehalt eines Nießbrauchsrechts die Zehnjahresfrist nicht zu laufen beginnt. Der Wert der Immobilie ist deshalb auch dann noch auf den Pflichtteil anzurechnen, wenn die Immobilie bereits vor mehr als zehn Jahren verschenkt wurde.
Das Wohnrecht geht nicht ganz so weit. Bei Vorbehalt eines Wohnrechts darf der Berechtigte lediglich in dem Haus wohnen. Ohne Genehmigung durch den Eigentümer darf er es jedoch nicht Dritten überlassen und dementsprechend auch nicht vermieten. Behält sich der Erblasser jedoch ein Wohnrecht am gesamten Haus vor und will er es ohnehin selbst weiter nutzen, verzichtet er ebenfalls nicht wirklich. Auch dann muss man deshalb davon ausgehen, dass die Zehnjahresfrist nicht zu laufen beginnt.
In einer aktuellen Entscheidung aus 2016 hatte der Bundesgerichtshof über einen Fall zu entscheiden, in dem sich ein Erblasser lediglich am Erdgeschoss eines Wohnhauses ein Wohnrecht vorbehalten hat. Zwei darüber liegende Geschosse waren unbelastet und konnten vom neuen Eigentümer genutzt werden. In dem Fall hatte der Erwerber immerhin zehn Jahre lang auf zwei Geschosse und damit auf den Großteil des Anwesens verzichtet. Deshalb bestanden nach Ansicht des Bundesgerichtshofs in diesem Fall nach Ablauf der Zehnjahresfrist keine Pflichtteilsergänzungsansprüche mehr.
Veräußert man also zu Lebzeiten eine Immobilie unter Vorbehalt eines umfassenden Nießbrauchs- oder Wohnungsrechts muss man sich also im Klaren darüber sein, dass auch mehr als zehn Jahre danach noch Streit über Pflichtteilsergänzungsansprüche entstehen kann.
Bestehen Pflichtteilsergänzungsansprüche im Hinblick auf eine verschenkte Immobilie, entsteht ein weiteres nicht zu unterschätzendes Problem. Für die Pflichtteilsberechnung muss nämlich der Wert der Immobilie festgestellt werden. Das Gesetz sieht insoweit das sogenannte Niederstwertprinzip vor. D. h. es muss der Wert der Immobilie im Zeitpunkt der Schenkung und im Todeszeitpunkt ermittelt werden. Für die Berechnung des Pflichtteils ist sodann der niedrigere dieser beiden Werte ausschlaggebend.
Dieses Niederstwertprinzip wird für alle Beteiligten zum Glücksspiel. Der Bundesgerichtshof geht nämlich in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass vom Immobilienwert auch noch der Wert des Nießbrauchsrechts oder des Wohnungsrechts in Abzug zu bringen ist, wenn der Immobilienwert zum Zeitpunkt der Schenkung der niedrigere ist. Denn zu diesem Zeitpunkt hat der Erwerber ja lediglich eine mit dem Nießbrauchs- oder Wohnungsrecht belastete Immobilie erhalten. Ist jedoch der Immobilienwert im Todeszeitpunkt niedriger und damit für die Pflichtteilsberechnung ausschlaggebend, ist das Nießbrauchs- oder Wohnungsrecht nicht mehr in Abzug zu bringen. Denn mit dem Tod des Erblassers ist diese Belastung der Immobilie ja erloschen.
Hier können also geringste Wertschwankungen einen enormen Einfluss auf die Höhe des Pflichtteils haben. Verschenkt der Erblasser beispielsweise eine Immobilie sehr früh zu einem Zeitpunkt, als er noch eine sehr hohe restliche statistische Lebenserwartung hat und behält er sich dabei ein lebenslängliches Nießbrauchsrecht vor, hat dieses Nießbrauchsrecht natürlich auch einen sehr hohen Wert. Dementsprechend wäre die Schenkung nach Abzug des Nießbrauchsrechts fast nichts mehr wert. Das Problem kann an einem Beispiel verdeutlicht werden:
Der Erblasser E verschenkt an das Kind K1 im Alter von etwa 50 Jahren eine Immobilie im Wert von 200.000 € und behält sich dabei ein lebenslanges Nießbrauchsrecht vor. Aufgrund des Nießbrauchsrechts fängt die Zehnjahresfrist nicht an zu laufen, sodass das Kind K2 Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend machen kann, wenn E 30 Jahre später verstirbt. Hat sich nun zum Todestag der Wert der Immobilie lediglich um einen Euro erhöht, wäre die Immobilie also 200.001 € wert, gilt für die Pflichtteilsberechnung nach dem Niederstwertprinzip der Wert zum Schenkungstag. Da zu diesem Zeitpunkt die Immobilie aber auch noch mit dem Nießbrauchsrecht belastet war, wäre dies in Abzug zu bringen. Da E zu diesem Zeitpunkt noch eine relativ hohe Lebenserwartung hatte, wäre das Nießbrauchsrecht entsprechend viel wert, beispielsweise 150.000 €. Der Pflichtteil würde sich nun also aus einem Immobilienwert in Höhe von lediglich 200.000 – 150.000 = 50.000 € berechnen.
Hätte sich bis zum Tod jedoch der Immobilienwert um einen Euro verringert, betrüge er 199.999 €. In diesem Fall wäre dieser geringere Wert für die Pflichtteilsberechnung ausschlaggebend. Da im Todeszeitpunkt keine Belastung mehr mit einem Nießbrauchsrecht vorliegt, wäre auch kein Nießbrauchsrecht abzuziehen. Der Pflichtteil würde sich hier also aus einem Immobilienwert i.H.v. 199.999 € berechnen.
Es lässt sich durchaus darüber diskutieren, ob es sachgerecht ist, es dem Zufall zu überlassen, ob das Nießbrauchsrecht für die Pflichtteilsberechnung in Abzug gebracht wird oder nicht. Diese Berechnung nach dem Niederstwertprinzip entspricht jedoch der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und muss so hingenommen werden.
Wurden sie enterbt und möchten Pflichtteilsansprüche geltend machen oder möchten Sie einen Angehörigen enterben und spätere Pflichtteilsansprüche minimieren? Ich berate Sie gerne. Viele Streitigkeiten lassen sich im Vorhinein durch eine saubere Testamentsgestaltung vermeiden.
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